Ein Mensch wie ihr
Ein vielstimmiger Parcours: Theater, Tanz, Geschichten, Fest
Begleitet von Soundinstallationen, Videos, Aktionen und DJing „erobern“ drei künstle-rische Teams um die Choreografin Rafaële Giovanola, die Autorin und Regisseurin Christine Umpfenbach und den Regisseur und bildenden Künstler Philipp Preuss die Räume der Stadthalle Mülheim. Menschen aus der Region stehen neben Schau-spieler*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen auf den Bühnen. Ein großer, diverser Chor aus Bürger*innen der Region und Mitgliedern der Chöre der Petrikirche erweitert das professionelle Ensemble. Insgesamt gestalten mehr als 60 Beteiligte das multiperspek-tivische Kunstfest.
Gemeinsam gehen sie der ewigen Frage nach: Ist der Mensch nun „von Natur aus gut“ oder doch „des Menschen Wolf“? Bertolt Brechts Fragment „Fatzer“, das in Mülheim an der Ruhr spielt, bildet die hochaktuelle Folie für sehr unterschiedliche Erkundungen. „Drei Minuten lang nachzudenken“ – wie es im „Fatzer“ heißt – über die Spezies Mensch als Egoist*in, als Kriegstreiber*in und gleichzeitig als das Gemeinschaftswesen, das sehnsuchtsvoll nach einer anderen Welt strebt.
Die Zuschauer*innen durchwandern, geführt und begleitet, die Stadthalle und erleben einen mehrteiligen Theaterparcours aus vielgestaltigen Elementen wie Schauspiel, Tanz, Chören, Geschichten und Film, der bei gemeinsamem Essen und Trinken in ein hoffentlich gemeinschaftsbildendes Fest übergeht.
Von und mit dem Chor der Petrikirche, dem Kantor Gijs Burger und den Komponisten Jörg Ritzenhoff und Thorsten Töpp, dem Ensemble des Theater an der Ruhr (Günther Harder, Leonhard Hugger, Fabio Menéndez, Steffen Reuber, Berit Vander, Gabriella Weber), Wisam Atfah, Abdulrazak Balksh, Anna Dudkina, Slavi Grigorov, Inge Ketzer, Jasmina Musić, Alaa Nema, Maryam Nema, Leonce Noah, Amal Omran, Olena Polianska, Jonathan Sanchez, u. v. m. Texte: Bertolt Brecht („Fatzer“), Christine Umpfenbach u. a.
„Brechts ‚Fatzer‘, eine Stückskizze in Sprachtrümmern, stationiert in Mülheim, ist der Versuch Krieg auf das ewige Schlachtfeld Individuum versus Gruppe zu kondensieren“, so Philipp Preuss. Für ihn stellt sich die Frage: „Wie weit kann individuelle Freiheit gehen, wenn sie damit das Leben anderer gefährdet? Brecht stellt sich zunächst hinter die Deserteure, um dann zu sehen, dass die Frontlinien der Gewalt in den menschlichen sozialen Strukturen selbst herrschen. „Der ewige Loop des Kriegs produziert Untote in jeweils aktuellen Uniformen, Krieg ist immer nur ein zerstörerisches Gegenmodell
Weitere Vorstellungen: 03., 04. November 19 Uhr In der Stadthalle Mülheim
Ein Projekt von vier.ruhr, Theaterallianz: Mülheimer Theatertage, Ringlokschuppen, Theater an der Ruhr. Gefördert im Rahmen von NEUE WEGE durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW in Zusammenarbeit mit dem NRW KULTURsekretariat und der Stiftung Mülheimer Wohnungsbau.
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Christine Umpfenbach schließt daran an. Zu ihrem Projekt mit fünf Frauen, die selbst oder deren Eltern vor Kriegen geflohen sind, sagt sie: „Mich interessiert an dem ‚Fatzer‘-Material vor allem die Frage von Individuum und Kollektiv. Was ist das für ein Moment, in dem sich ein Mensch entscheidet, sich aus einer Gruppe zu lösen, ‚Nein‘ zu sagen, ‚Nein‘ zu einem System‘ oder ‚Nein‘ zum Kämpfen? Das ist erstmal eine sehr einsame Entscheidung, die einen isoliert und die deswegen nie leicht ist. Man befindet sich im Dazwischen, in einem Niemandsland. Dieser Moment erscheint mir sehr wichtig und mutig.“
Die Choreografin Rafaële Giovanola macht klar: „Es geht um Bewegungen des Einzelnen und der Gruppe, Bewegungen, die den Raum definieren und strukturieren.“ Sie möchte an diesem Abend „einen Zwischenraum, eine Schwelle, einen Raum, in dem Verschiebungen des Hörens, Sehens und Fühlens spürbar werden“ schaffen. Hier sollen sich Betrachter*innen und Akteur*innen vermischen.
Rafaële Giovanola, geboren 1960 in Baltimore/USA und aufgewachsen in der Schweiz, arbeitet als Choreografin und Regisseurin. Sie studierte Tanz bei Marika Besobrasova in Monte Carlo, ihr erstes Engagement führte sie als Solistin nach Turin. 1995 wurde sie in der Kritikerumfrage von „ballett international/tanz aktuell“ in der Kategorie „außergewöhnliche Tänzerpersönlichkeiten“ genannt. 2000 gründete sie zusammen mit Rainald Endraß die freie Gruppe CocoonDance. Rafaële Giovanola arbeitet international und unterrichtet(e) zudem verschiedene Tanzkompagnien, etwa die des Theater Freiburg, des tanzhaus NRW in Düsseldorf und der Ewgenij Panfilow Company in Perm, Russland.
Philipp Preuss, geboren 1974 in Bregenz und aufgewachsen in Wien, ist Regisseur und Mitglied der kollektiven künstlerischen Leitung des Theater an der Ruhr. Er studierte Regie und Schauspiel am Mozarteum Salzburg sowie Theaterwissenschaften und Philosophie in Wien und ist seit 2001 freier Regisseur. Von ihm stammen Arbeiten u. a. am Schauspielhaus Bochum, Theater Dortmund, Schauspiel Frankfurt, Deutsches Theater Berlin, Schaubühne Berlin, Schauspiel Leipzig, Bayreuther Festspiele, Residenztheater München. Preuss inszeniert seit 2001 Ausstellungen mit fiktiv-virtuellen Künstlerfiguren, die von Schauspieler*innen dargestellt werden; er erweitert den Theaterbegriff in den Bereich der bildenden Kunst.
Christine Umpfenbach, geboren 1971 in München, studierte Bühnenbild an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und Regie am Goldsmiths College London. Von 2000 bis 2002 leitete sie zusammen mit Antje Wenningmann das Obdachlosentheater Ratten 07 an der Volksbühne Berlin. Seit 2003 entwickelt und inszeniert sie Theaterprojekte im Stadtraum, an Stadt- und Staatstheatern sowie für Festivals unter anderem in München, Freiburg, Riga, Tel Aviv oder Taipei. Ihren dokumentarischen Projekten geht immer eine intensive Recherche voraus. Dabei stellt sie individuelle Biografien von Zeitzeugen in den Vordergrund. Mit ihrer Inszenierung „9/26 – Das Oktoberfestattentat“, erarbeitet an den Münchner Kammerspielen, war sie 2021 für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert.